Einführender Überblick
Schon
immer ging es im Verlauf der Menschheitsgeschichte um die Frage, wie
wir unser Leben gut und wirklich sinnvoll gestalten können. Das
Pentaolon-Modell versucht, die wichtigsten Lebensprinzipien der
Tiefenpsychologie und integralen Psychologie zusammenzufassen.
Ein solcher Versuch
könnte angesichts der unübersehbaren Fülle an
Detailinformationen, die über den Menschen und sein Leben
inzwischen vorliegen, unmöglich und aussichtslos erscheinen, wenn
es nicht eine relativ begrenzte Zahl von universalen Grundkategorien
gäbe, die sich über viele Jahrtausende Menschheitsgeschichte
hinweg als sinn- und orientierungsstiftend herausgestellt hätten.
In den philosophischen, wissenschaftlichen, religiösen Systemen
und hermetischen Traditionen wurden immer wieder ähnliche Faktoren
beschrieben, nach denen sich das menschliche Leben, seine Entwicklung
und Vollendung, sein Ursprung und Ziel einordnen ließen.
Um
welche universalen Aspekte des Lebens und der
Persönlichkeitsentwicklung handelt es sich? Sie lassen sich auf
fünf (vier plus eins) Prinzipien oder Faktoren verdichten, die in
diesem Buch mit den aus dem Griechischen abgeleiteten Begriffen BIOS,
HEROS, LOGOS, EROS und M× bezeichnet werden sollen. Diese
Begriffe wirken zunächst vielleicht etwas ungewohnt, werden aber
schnell vertraut und sind aufgrund ihrer kultur- und
geistesgeschichtlichen Zusammenhänge am besten geeignet, die
gemeinten Sachverhalte darzustellen.
Wieso
es gerade diese vier Prinzipien (plus dem umfassenden integrierenden
fünften MYSTOS-Prinzip) sind, ist nicht einfach zu erklären.
Sie sind in der Natur der Lebens enthalten und man findet sie einfach
vor, so wie man auch die Naturgesetze vorfindet. Wenn man die
großen Themen der Menschheit analysiert, stößt man
jedenfalls immer wieder auf diese fünf Faktoren. Sehr
wahrscheinlich hängt dies auch damit zusammen, dass sie das
natürliche Familiensystem Mutter, Vater, Sohn und Tochter abbilden
und auf der Ur-Polarität Weiblich-Männlich beruhen, von der
wir alle tief geprägt sind. Mutter und Vater repräsentieren
hierbei eher die älteren, stabilen und konservativen Aspekte, Sohn
und Tochter mehr die jüngeren, dynamischen und progressiven
Tendenzen der weiblich-männlichen Urpolarität. Die Familie
als Ganzes wäre dann das verbindende fünfte Prinzip.
Das
Bios-Prinzip oder der Bios-Faktor (im weiteren kurz BIOS genannt)
umfasst die materiell-biologischen Grundlagen unserer Existenz. Dazu
gehören also beispielsweise: Ursprung, Energie-Materie, Leben und
Natur, des weiteren unsere vitalen Bedürfnisse, Instinkte und
Triebe, das Sinnliche und Körperliche. Das ihm zugeordnete
zentrale Symbol ist die Erde. In den traditionellen Symbolsystemen wird
BIOS häufig mit dem weiblichen Ur-Prinzip, der "Großen
Göttin" oder "Großen Mutter" verbunden.
Diesem
Prinzip gegenüber polar angeordnet - aber niemals als
ausschließender Gegensatz gemeint - steht das Logos-Prinzip, das
die geistige Dimension bezeichnet. Zum LOGOS gehört alles, was
sich auf die Weisheit und Intelligenz, die in aller Schöpfung
waltet, auf Ordnungsstrukturen, Gesetzmäßigkeiten, auf
Bewusstsein, Erkenntnis und auf Wahrheits- und Sinnfindung bezieht. Das
zugeordnete Hauptsymbol ist das Licht, dargestellt durch die Sonne. Die
traditionellen Symbolsysteme sehen in ihm das oft männliche
Ur-Prinzip, den männlichen Schöpfer-Gott oder den
"Großen Vater".
Der
nächste universale Faktor ist der HEROS. HEROS bezeichnet solche
Aspekte wie Tatkraft, zielgerichtetes Handeln, Autonomie, Stärke,
Mut, Bereitschaft zu Konflikt, Auseinandersetzung und Kampf. Sein
Hauptsymbol ist der nach rechts oben gerichtete phallische Pfeil. HEROS
ist jene vorwärtsdrängende Energie, die uns den harten Kampf
ums Dasein ermöglicht und uns die Kraft zur Selbstverwirklichung
verleiht. Helden und Heldinnen sind die Hauptakteure in allen
Erzählungen, Geschichten und Filmen.
Das
polare Gegen- und Ergänzungsprinzip hierzu ist der EROS. EROS
verbindet und vereinigt, während HEROS eher abgrenzt und trennt.
EROS ist der Faktor der Beziehung, Liebe, Schönheit, der Freude
und der Harmonie. Sein Hauptsymbol ist das Herz. Die Erotik und die
Liebe machen uns zu den höchsten und tiefsten Gefühlen
fähig, sie geben dem Leben Zauber, Glanz und Wärme und wecken
in Verbindung mit LOGOS die edelsten Tugenden des Menschen.
Die
vier Prinzipien sind verschiedene Aspekte eines umfassenden Ganzen.
Dieses Ganze wird als fünfter Faktor mit MYSTOS
(schöpferisches Mysterium) bezeichnet, denn das Ganze ist uns aus
verschiedenen Gründen niemals vollständig erkennbar. MYSTOS
weist auf den verborgenen Mittelpunkt wie auch zugleich den Umfang des
Menschen wie auch des Lebens hin. Er ist das Mysterium der sich selbst
organisierenden, schöpferischen Einheit und Ganzheit des Seins,
aus der sich die beschriebenen anderen Faktoren in einem andauernden
Wachstums- und Veränderungsprozess heraus differenzieren und
hinein integrieren. Die Orientierung auf diese Ganzheit hin ist das
Ziel aller religiösen Systeme und des Individuationsprozesses.
Diese
fünf Faktoren werden im "Pentaolon-System" zusammengefasst. Der
Name "Pentaolon" ist zusammengezogen aus der griechischen Vorsilbe
"pent" für die Zahl Fünf, dem chinesischen "tao" und dem
griechischen "Holon", welches sich als modernes Wort für Ganzheit
eingebürgert hat. Die Bezeichnung soll also darauf hinweisen, dass
es ein ganzheitliches Modell ist, das auf fünf (vier plus eins)
zentralen Elementen in der Gestalt eines Mandalas beruht und deren
Elemente sich in einem fortwährenden kompensatorischen
Wandlungsprozess befinden. Weitere Einzelheiten zum Modell finden sich
im siebten Kapitel.
Anhand
des Pentaolon-Systems können wir uns mit den zentralen Aspekten
der Individuation und der Lebenskunst vertraut machen. Allerdings ist
es in diesem Buch nur möglich, einen allerersten,
einführenden Überblick über die vielfältigen
Dimensionen dieser Prinzipien zu geben. Zu jedem einzelnen von ihnen
sind über die Jahrtausende hinweg so viele künstlerische
Werke, religiöse Symbole und Texte, philosophische Abhandlungen
und wissenschaftliche Untersuchungen erschienen, dass sie kein Mensch
mehr erfassen, geschweige denn zusammenfassen könnte. Die
Darstellungen in diesem Buch sollen aber ermutigen, sich mit diesen
Bereichen weiter und tiefer zu beschäftigen. Das Pentaolon-System
lässt uns die Fülle und das Wunder des Lebens, von dem wir
ein Teil sind und an dem wir für eine kurze Zeitspanne teilnehmen
dürfen, besser erahnen und feiern.
Darüber
hinaus können wir das Pentaolon-System als eine Art Kompass
für unsere Selbstverwirklichung verwenden. Es kann uns zeigen, wo
wir uns möglicherweise zu sehr von unserer natürlichen
Ganzheit entfernt haben, in die Sackgasse geraten sind und in welcher
Richtung es weitergehen könnte. Es kann unser Bewusstsein
erweitern, indem es uns auf Bereiche der Seele und des Lebens
aufmerksam macht, die wir vielleicht verdrängt haben oder aus
anderen Gründen nicht genügend würdigen. Wir können
uns also praktisch in allen Lebenssituationen zur Orientierung fragen:
Welche Prinzipien sind hier in welcher Weise vorhanden und welche
fehlen? Je mehr Prinzipien fehlen, desto einseitiger und
gefährdeter ist die Situation. Diese Fragen können wir auf
alles beziehen: Auf unsere Werte, Einstellungen, Glaubenssysteme, auf
unsere Träume, auf unseren bevorzugten
Persönlichkeits- und Lebensstil, auf unsere Partnerschaft,
auf unseren Beruf, auf größere Gemeinschaften, auf
religiöse, philosophische und psychologische Richtungen, auf
unsere Gesellschaft, die ganze Erde. So lässt sich zum Beispiel
mit seiner Hilfe leicht erkennen, dass in unserer modernen Gesellschaft
die Werte des HEROS und des LOGOS immer noch stark dominieren und sich
teilweise ins Negative verkehrt haben, weil die gesunde, konstruktive
Beziehung zum BIOS, zur Natur und zum Leben, zum EROS, zur Liebe und
Schönheit und auch zum MYSTOS, der die Welt als eine lebendige,
göttliche Ganzheit auffasst, tief gestört ist. Das
Pentaolon-System ist ein einfaches und gleichzeitig erstaunlich
umfassendes Diagnoseinstrument im Kleinen wie im Großen.
Schließlich
können wir das Pentaolon-System als Quintessenz und Kompendium des
psychologischen Lebenswissens der Welt verstehen. Es ist eine
verdichtete Form all dessen, was die Menschheit an praktischen
Ratschlägen zur guten Lebensbewältigung zusammengetragen hat
und was sich in unzähligen Sprichwörtern, Redensarten und
Lebensweisheiten findet.
Der
Aufbau der weiteren Kapitel des Buches versucht, den beschriebenen
Möglichkeiten des Pentaolon-Systems Rechnung zu tragen. Wir werden
die einzelnen Faktoren jeweils in ihrer allgemeinen symbolischen
Bedeutung umkreisen und dann etwas spezieller in ihrer Bedeutung
für unsere Persönlichkeit und den Individuationsprozess
betrachten.
Dass
dabei auch Bezüge zur Selbsterfahrung und Therapie hergestellt
werden, liegt darin begründet, dass sich der bewusst gegangene
Individuationsprozess beim westlichen Menschen sehr häufig im
Rahmen einer Therapie oder Selbsterfahrung abspielt. Psychische
Erkrankungen und Symptome sind für viele Menschen oft ein erster
Anlass, sich mit sich selbst, ihrer Identität und mit Sinnfragen
auseinander zu setzen. Außerdem hat die moderne Psychotherapie
eine Vielzahl von Erkenntnissen gewonnen und Methoden entwickelt, die
nicht nur für die Krankenbehandlung, sondern auch für andere
Formen der Selbsterkenntnis und Selbstfindung nützlich sind. Weil
unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten,
Lebensweisen, Konflikten und Störungen unterschiedliche
Therapieformen brauchen, war es für mich ein interessanter Gedanke
zu überprüfen, welche Faktoren des Pentaolon-Systems in den
unterschiedlichen Therapierichtungen und Selbsterfahrungsmethoden
Berücksichtigung finden. Dies kann dem interessierten Leser
helfen, die für ihn geeignete und seinen bisherigen Lebensstil
ergänzende Form der Selbsterfahrung zu finden.
Im
letzten Teil jedes Kapitels werden unter der Überschrift
"Quintessenz" die wichtigsten lebenskünstlerischen Konsequenzen
und praktischen Ratschläge, die sich aus den Faktoren ergeben,
thesenartig zusammengefasst. Eine tabellarische Übersicht der
Aspekte der Faktoren befindet sich außerdem im siebten Kapitel.

Der Prozess der Individuation von der Ursprungseinheit zur Ganzheit
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