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Aspekte und Symbole des BIOS-Prinzips
Da sich C. G. Jung und zahlreiche seiner Schüler um eine Differenzierung, Bewusstmachung und Integration vieler BIOS-Aspekte verdient gemacht haben, sei hier das Spektrum seiner unabsehbar vielfältigen Formen und Symbole von C. G. Jung selbst zusammengefasst. In vielen klassischen Mythen wie auch in traditionellen Symbolsystemen wird der BIOS mit dem weiblichen Ur-Prinzip, dem Archetyp der Großen Göttin und der Großen Mutter in Verbindung gebracht, was insofern nahe liegt, als wir Menschen den Ursprung unseres Lebens natürlicherweise mit dem Weiblichen und Mütterlichen verbinden. C. G. Jung zählt folgende typische Erscheinungsformen auf, in denen das BIOS-Prinzip auftritt oder auf die es projiziert wird. Lesen wir diese Aufzählung langsam und lassen wir uns Zeit, uns diese vielen Aspekte emotional und mit eigenen Erinnerungen und Erfahrungen verbunden vor Augen zu führen: die persönliche Mutter und Großmutter, die Stief- und Schwiegermutter, irgendeine Frau, zu der man in Beziehung steht, auch die Amme oder Kinderfrau, die Ahnfrau und die Weiße Frau, in höherem, übertragenem Sinne die Göttin, speziell die Mutter Gottes, die Jungfrau, Sophia. In einem weiteren Sinne gehören dazu die Kirche, die Universität, die Stadt, der Wald, das Meer und das stehende Gewässer, das Land, der Himmel, die Erde, die Materie, die Unterwelt und der Mond; im engeren Sinne als Geburts- oder Zeugungsstätte der Acker, der Garten, der Fels, die Höhle, der Baum, die Quelle, der tiefe Brunnen, das Taufbecken, die Blume als Gefäß (Rose und Lotus); im engsten Sinne die Gebärmutter, wie überhaupt jede Hohlform (zum Beispiel Schraubenmutter), der Backofen, der Kochtopf; als Tier die Kuh, der Hase und das hilfreiche Tier überhaupt. Es erscheint auch im Zauberkreis des Mandala und als das Ziel der Erlösungssehnsucht (Paradies, Reich Gottes, himmlisches Jerusalem). An anderer Stelle zählt Jung noch weitere Aspekte auf, so z. B.: die magische Autorität des Weiblichen; die Weisheit und die geistige Höhe jenseits des Verstandes, das Gütige, Hegende, Tragende, Wachstums-, Fruchtbarkeits- und Nahrungsspendende; die Stätte der magischen Verwandlung, der Wiedergeburt; der hilfreiche Instinkt oder Impuls; das Geheime, Verborgene, das Finstere, der Abgrund, die Totenwelt, das Verschlingende, Verführende und Vergiftende, das Angsterregende und Unentrinnbare. Die Gegensätzlichkeit der Eigenschaften bezeichnet er als die bergende und die schreckliche Mutter.[10] An dieser Aufzählung sei besonders hervorgehoben der Hinweis auf die "Weisheit und geistige Höhe jenseits des Verstandes". Er wird uns auch später noch als die Einsicht beschäftigen, dass sich der Geist in der Tiefe der Natur und durch sie manifestiert hat, lange bevor wir davon bewusste Kenntnis hatten. BIOS und LOGOS sind keine voneinander getrennte Größen, sondern nur unterschiedliche Ausdrucksformen des gleichen schöpferischen Mysteriums. Der Mutter-ArchetypViele Menschen, die in einen Prozess der Selbsterfahrung eintreten, stehen in einem tiefen Konflikt mit BIOS unter dem Aspekt des Mütterlichen. Sie fühlten sich in ihrer Kindheit nicht gut "bemuttert", nicht richtig geliebt, gesehen und gefördert. Oft haben sie das Gefühl, Mutter und Vater seien nur etwas wie unpersönliche "Pflichteltern" gewesen. Sie hätten vor allem für Sicherheit und Nahrung gesorgt, darüber hinaus aber keine positive vertrauensvolle Beziehung zu ihnen hergestellt. Frauen beklagen sich häufig darüber, dass ihnen ihre Mutter kein hilfreiches Vorbild gewesen sei im Hinblick darauf, was es heißt, eine Frau zu sein, was weibliche Identität, Körperlichkeit und Sexualität sein könnte. Diese Enttäuschungen und die Vorwürfe gegenüber Mutter und Vater sind häufig gerechtfertigt. Von daher ist es oft hilfreich und notwendig, sich seiner Trauer und seines Schmerzes über die fehlende gute Mütterlichkeit in der Kindheit hinzugeben. Aber nach einer bestimmten Zeit befriedigt eine solche Schuldzuschreibung nicht mehr recht. Auch unsere Eltern hatten Eltern, die ihnen keine genügend gute Mutter und kein genügend guter Vater waren, welche wiederum auch keine genügend guten Eltern hatten. Wer ist wirklich Schuld an unserem Elend? Ein solches Verharren in der Position des Kindes, das nicht genügend gute Mütterlichkeit bekommen hat, führt irgendwann nicht mehr weiter - im Gegenteil: Es verfestigt unsere negativen Mutter- und Vaterkomplexe, illusionäre Erwartungshaltungen, Verbitterungs- und Resignationsgefühle und kann in die Sackgasse der Depression münden. Das Leben hat uns keine Versprechungen und Garantien auf ein gutes und schönes Leben gegeben, sondern hat uns in die Welt gesetzt und wir müssen nun schauen, wie wir am besten damit zurecht kommen. Wenn uns unsere persönliche Mutter nicht weiterhelfen kann, dann können wir uns darauf besinnen, dass wir die Große Mutter in uns selbst tragen. Hinter allen menschlichen Müttern steht nämlich die archetypische Große Mutter, das Universum, die Erde, das Leben, die Natur, unser Körper und die sich darin offenbarende Güte und Weisheit. Und diese Große Mutter hat uns mit allem Nachdruck gewollt, sie hat sich durchgesetzt - vielleicht auch gegen den Wunsch unserer leiblichen Mutter - sie nährte uns vom Augenblick der Empfängnis an, trägt und fördert uns bis zum heutigen Tage. Eine Frau hatte nach einem Selbsterfahrungskurs zum Thema "Mütter und Töchter in Beziehung" einen Traum, der sie sehr bewegt hat. Sie berichtet: "Für mich völlig überraschend tauchte in diesem Traum ein Motiv aus Mozarts Oper "Die Zauberflöte" auf. Mit dieser Oper habe ich mich vor ca. 20 Jahren als Schülerin etwas beschäftigt, und vor ca. 15 Jahren habe ich sie in einer Aufführung erlebt. Seither hatte ich keinen Kontakt mehr mit diesem "Material" und mochte Mozart nicht. Der Traum: Ich erzähle einer Gruppe 13-jähriger Mädchen von spannenden Erfahrungen während der Zeit meiner Menarche: Ich war selbst 13 oder 14 Jahre alt und trat als Sängerin auf. Ich sang die Rolle der "Königin der Nacht" in Mozarts "Zauberflöte", empfand die Koloraturen und die Energie der unglaublich hohen Sopranstimme lustvoll nach. In dieser Zeit, als ich mit der besonderen Energie dieser Rolle Frau wurde, verstärkten sich meine weiblichen Körpermerkmale (sehr viel mehr, als sie es tatsächlich taten)! Später berichte ich meiner Mutter von dem Gespräch mit den Mädchen und von der Erinnerung an meine eigene Menarche-Zeit. Sie ist gerade beim Kochen für Gäste, steht unter Hochspannung und Zeitdruck. Zu meinem Erstaunen lässt sie sofort ihre Arbeit stehen und beginnt, sich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen. Sie tut dies, indem sie nach den Predigten des Pfarrers, der mich konfirmiert hat, sucht, die sie alle geordnet und aufbewahrt hat. Ich bin erstaunt über das plötzliche und große Interesse, das meine Mutter an meiner Geschichte zeigt - in einer Form allerdings, die völlig an der Bedeutung für mich vorbeigeht: Predigten als Entgegnung zur Königin der Nacht!" Dieser Traum ist ein geradezu klassischer Beleg für die eben erwähnte Tatsache, dass hinter und unter unseren persönlichen Mutter-, Vater- oder Elternbeziehungen die archetypischen Großen Eltern, hier die Große Mutter in Gestalt der "Königin der Nacht" wirksam sind. In obigem Traum scheint die reale Mutter die weibliche und sicher auch erotische Energie ihrer Tochter mit moralischen Gardinenpredigten unterdrücken zu wollen, wie es so viele Mütter und Väter tun, wenn ihre Töchter in die Pubertät kommen. Aber im Unbewussten scheint eine mächtigere Kraft lebendig zu sein. Abschließend sagt die Träumerin: Die "Königin der Nacht" scheint eine besondere psychische Energie zu verkörpern, die mir möglicherweise fehlt." Die Energie, die ihr fehlt, ist die machtvolle UR-Energie des Lebendigen und der Traum ermutigt die Träumerin, sich dieser Energie nach 15 Jahren wieder zu erinnern. Eine negative Mutter-Beziehung, die unseren Bezug zur eigenen sinnlichen wie geistigen Vitalität hemmt, kann am besten dadurch überwunden werden, dass man sich das ganze Potential der inneren Großen Mutter bewusst macht und durch sich selber zum Ausdruck bringt. Anstatt sich von einer äußeren Mutter machtvoll dominieren zu lassen, verwirklicht man in sich selbst die Macht der Großen Mutter. Ein weiteres Beispiel für die archetypische Dimension unserer Seele ist visionäre Erfahrung einer 55 Jahre alten Frau, Mutter von zwei Kindern, die sich in einer klimakterischen Identitätskrise befand. In einem traumähnlichen Zustand sieht sie sich "nackt in einer Höhle liegen, mit heftigen Wehen ein Kind gebärend, meine eigenen Schreie und den Schrei des Kindes hörend, dumpf an den Wänden der Höhle nachhallend." Nach einer Weile erweitert sich die Perspektive etwas nach hinten: "Ich sehe mich im gleichen Augenblick aus dem Schoß meiner Mutter hervorkommen, unter Wehen, Schmerzen und Schreien. Dahinter liegend erkenne ich meine Großmutter, die meine Mutter gebiert und schließlich immer weiter zurück alle möglichen Vor- und Ur-Mütter in unendlicher Reihe. Schließlich sehe ich das Meer und die Erde, die alle Lebewesen hervorbringen und am Ende den dunklen, leeren Weltraum, in den hinein sich die ganze Existenz gebiert, unter gigantischen Eruptionen und gewaltigen Klängen." Erschreckt, zugleich aber auch zutiefst bewegt, erkannte diese Frau ihre Verbundenheit mit diesem Schöpfungsprozess und mit diesen alles erfüllenden, alles zusammenfassenden Klängen, die noch lange in ihr schwangen. Später hatte sie die Empfindung, dies sei der "Urschrei" gewesen oder die heilige Silbe OM (Aum), in denen sich nach Auffasssung der indischen Philosophie die ganze Schöpfung verdichte und offenbare. In solchen Erfahrungen scheint uns das Leben selbst an die Tatsache erinnern zu wollen, dass wir und unser Körper kosmische Wesen sind und dass wir teilhaben an der gleichen Energie, die auch das Universum, die Erde und die Natur hervorgebracht hat. Mutter ErdeAbb.: DIE ERDE IST SEINE AMMEUns modernen Menschen scheint erst in den letzten 50 Jahren immer mehr zu dämmern, dass wir in jederlei Hinsicht Kinder des Universums und Kinder der Erde sind. Was mehr naturnahe und frühere matriarchale Kulturen schon immer ahnten oder wussten, indem sie Muttergottheiten als erd- und himmelumfassende Gottheiten verehrten, wurde in den patriarchalen Kulturen in unglaublichem Ausmaße unterdrückt und verdrängt - mit verheerenden Folgen für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit. Im Buch Sirach aus dem Alten Testament finden wir noch letzte Hinweise auf die einstmalige Verehrung dieser Göttinnen, hier in Gestalt der Himmlischen Sophia: Den Kreis des Himmels habe ich umschritten, ich allein, (Sirach, 24,5-6)
Im Mittelalter mit seiner Überbetonung des LOGOS, des Himmels- und Geistraumes wurde die Erde und mit ihr alles Materielle, Körperliche, Triebhafte und Sinnliche und damit ganz besonders die Sexualität, zum Inbegriff des Bösen, Schlechten, Niedrigen und Verachtenswerten. So heißt es bei Papst Innozenz III in seinen Aussagen "Über die Verachtung der Welt" über den Menschen: "Gebildet aus schmutzigstem Samen, empfangen im Kitzel des Fleisches, ernährt vom Menstrualblut, von dem es heißt, es sei so abscheulich und schmutzig, dass, mit ihm in Berührung gekommen, die Feldfrüchte nicht mehr keimen, die Baumgärten vertrocknen... und Hunde, wenn sie davon essen, tollwütig werden."[11] Die Verneinung und Verteuflung des BIOS, alles Erdhaften, Körperlichen und Weltlichen - insbesondere projiziert auf die Frau - fand ihren grausamen Höhepunkt in der Inquisition und den Hexenprozessen. Mühselig und unendlich langsam scheint sich dann etwa seit der Renaissance eine allmähliche Bewusstseinsveränderung vollzogen zu haben. Der Jenseitigkeit des fernen Logos-Geist-Himmels-Prinzips wurde nach und nach die Diesseitigkeit der Natur gegenübergestellt. Das Interesse der Menschen richtete sich immer mehr auf die Erkundung der Erde und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Die Naturwissenschaften begannen ihren Triumphzug. Die Einstellung des heutigen Menschen zur Erde zeigt aber trotz aller Annäherungen und Erkenntnisse noch eine tiefe Gespaltenheit zwischen dem LOGOS und dem BIOS. Einerseits hat der Mensch die Erde in einem vorher nicht gekannten Ausmaß erkundet, sich "untertan" gemacht und ist dabei, die letzten Bausteine des Lebens zu entschlüsseln, andererseits besitzt er immer noch die Arroganz und Überheblichkeit eines überzogenen HEROS- und LOGOS-Bewusstseins, das ihn in der Illusion gefangen sein lässt, er habe mit der Erde eigentlich nicht wirklich etwas zu tun, er sei von ihr losgelöst und sie sei sein Objekt, mit der er tun könne, was er wolle. Der Leib: Die Inkarnation des UniversumsSo unbewusst und verantwortungslos, wie wir mit der Erde umgehen, so gehen wir auch mit unserem Leben und dem Lebensträger, unserem Leib um. Obwohl "Fitness" und "Wellness" als durchaus positiv zu wertende Bewegungen einen immer breiteren Raum in den Medien und in der Öffentlichkeit einnehmen, und man von daher die Hoffnung haben könnte, dies signalisiere eine positive Einstellungsänderung zum Körper, so scheint doch die Beziehung zu ihm noch eher oberflächlich und lieblos. Oft geht es nicht primär um Pflege und Gesunderhaltung des Körpers aus Dankbarkeit und Wertschätzung, es geht nicht um Freude am Körperlichen und Sinnlichen, sondern es geht meist um die Anpassung an von außen kommende Modeerscheinungen und zweifelhafte Idealvorstellungen. Aufgrund eines basalen Gefühls der Unsicherheit über uns selbst, messen wir uns an überhöhten Idealvorstellungen und stehen dadurch in einem ständigen belastenden Konflikt mit dem, wie wir wirklich sind. Für viele Frauen ist das alte Märchen von Schneewittchen immer noch von höchster, leidvoller Realität: Spieglein, Spieglein an der Wand: Wer ist die Schönste im ganzen Land? Frauen stehen ihrem Körper oft sehr konflikthaft gegenüber, viele lehnen ihn ab, finden ihn abstoßend, hassen ihn gar. Sie nehmen ihn nur noch verzerrt wahr. Egal wie er ist, er ist falsch, er ist nicht wohlproportioniert genug, zu alt, zu fett, zu faltig, zu untrainiert. Sie können ihn nicht lieben und achten und gut für ihn sorgen. Er ist ihnen eher eine Last, ein ständiges Objekt der Scham, des Versagens und des Ungenügens. Immer wieder neu versuchen sie ihn durch Diäten und Gymnastik auf das Idealmaß zu bekommen und versagen doch immer wieder. Der Blick in den Spiegel erzeugt daher bei den meisten Menschen keineswegs Gefühle freudigen Erkennens, sondern Irritation, Selbstkritik und Abwertung. Auch viele Männer sehen in ihrem Körper keinen sensiblen Organismus, der zutiefst geschätzt, gewürdigt und entsprechend gepflegt werden sollte, sondern eine Maschine, die auf Höchstleistung getrimmt und bis aufs Letzte ausgebeutet werden muss. Körper und Seele sind keine wunderbar aufeinander abgestimmte Einheit, der Körper ist von Gefühlen und seelischen Vorgängen abgeschnitten. Er ist ein Sklave, ein Tier, das man kommandieren und antreiben kann und das sich dem Streben nach Erfolg gnadenlos unterzuordnen hat. Kann und will er nicht, wie er soll, wird ihm der Krieg erklärt. Verständlich, dass eine solche feindliche Haltung unserem Körper gegenüber Krankheiten, wie auch tiefe Identitätskonflikte hervorruft. Der Leib ist die natürliche Basis unserer Existenz. Wir sind unser Leib. Wenn wir ihn zu einer bloßen Maschine degradieren oder zu einem Objekt unserer konflikthaften narzisstischen Selbstdarstellung machen, missbrauchen und zerstören wir eine der geheimnisvollsten und wundervollsten Schöpfungen, die das Universum hervorgebracht und uns zum Geschenk gemacht hat. "Wie ist es möglich, dass ein Wesen mit solchen feinen Juwelen wie den Augen, solch zauberhaften Musikinstrumenten wie den Ohren und einer so großartigen Arabeske aus Nerven wie dem Gehirn sich selber als irgend etwas Geringeres als einen Gott erleben kann? Wenn man dann noch berücksichtigt, dass dieser unendlich subtile Organismus von den noch zauberhafteren Gebilden und Mustern seiner Umgebung, von den winzigsten elektrischen Phänomenen bis hin zu all den Milchstraßen, nicht zu trennen ist - wie soll man dann noch begreifen, dass diese Inkarnation alles Ewigen sich vom Sein angeödet fühlen kann?" Alan Watts[12] Die Missachtung der Erde und des LeibesWie konnte es aber überhaupt jemals zu einer solchen Abwertung, Abspaltung und Entfremdung des Menschen von der Erde und seiner Leiblichkeit kommen? Dafür sind verschiedene Ursachen vermutet worden, die gemeinsam haben, dass sie der Ausdruck einer tiefgreifenden Verdrängung schmerzlicher Realitäten sind. Sie sind letztlich verzweifelte, untaugliche Versuche, sich der eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der überwältigenden Abhängigkeit von der Materie, der Erde und dem Körper nicht bewusst werden zu müssen. Unser Körper unterliegt einem dauernden Prozess der Veränderung. Er ist empfindlich und verletzbar, oft schmerzt er, wird von Krankheiten befallen und vor allem: Er altert und ist sterblich. Darüber hinaus haben viele körperliche Bedürfnisse, wenn sie nicht erfüllt werden, einen drang- und leidvollen Charakter. Körperliche Bedürfnisse können so übermächtig werden, dass sie uns entgegen allen guten Vorsätzen und moralischen Idealen zu Verhaltensweisen zwingen, mit denen wir uns und anderen Menschen Schaden zufügen. Starke Triebe und Affekte können uns wie Dämonen überfallen und uns das Leben zur Hölle machen. Körperlichkeit kann also in vielerlei Hinsicht als Leiden, Last und als Gefängnis empfunden werden und es ist von daher sehr verständlich, dass wir manchmal froh wären, von dieser "Erdenschwere" und "Erdgebundenheit" befreit zu sein. Für diese Befreiung scheint sich uns insbesondere der geistige Raum des Logos anzubieten. In unseren Gedanken, Phantasien und Vorstellungen können wir Weite und Freiheit erleben. Gedanken und Phantasien "schmerzen" nicht, auch wenn sie uns natürlich belasten können. "Die Gedanken sind frei..." In unseren Gedanken und Phantasien können wir auch dann noch lebendig und kreativ sein, wenn der Körper alt, gebrechlich und unfruchtbar geworden ist. Aus diesem Erleben heraus haben viele Menschen gehofft oder geschlossen, Seelisches und Geistiges sei vom Körper unabhängig. Es müsse das Ziel der menschlichen Entwicklung sein, den Körper in seinen Funktionen einzuschränken oder gar abzutöten, damit die Seele oder der Geist befreit sein und geistige Unsterblichkeit erreichen könnten. Solche Vorstellungen finden sich in vielen religiösen Traditionen des Ostens und des Westens. Viele Jahrhunderte lang haben sich Menschen abgemüht, durch eine körperverachtende Haltung, durch Geißelung und masochistische Selbstverstümmelung ihr Seelenheil zu finden. Ausläufer dieser falsch verstandenen Vergeistigungstendenzen, bei denen sich das Geistige zum Herren über den Körper machen will, dem Körper seinen Willen aufzwingen und ihn unterwerfen möchte, finden sich heute noch in vielen Formen nicht nur des religiösen, sondern des ganz normalen alltäglichen Lebens, so zum Beispiel im Schönheits-, Attraktivitäts- und Fitnesskult und in ewigen Diäten, die dazu führen sollen, dass der Körper von seinen Schlacken, Dunkelheiten und Unreinheiten gereinigt wird, damit er dauerhafte Gesundheit und Jugendlichkeit gewährt. Das Tier in unsNeben die dauernde Gefährdung und Sterblichkeit des Körpers tritt als weiterer Grund für seine Abwertung die evolutionäre Entwicklung. Für uns heutige Menschen mag es vielleicht schwer nachzuvollziehen sein, warum diese Tatsache noch bis vor wenigen Jahren für sehr viele Menschen unannehmbar erschien und ihr Gefühl der Besonderheit und Gottähnlichkeit so tief kränkte. Aber in unserer immer noch fortdauernden Missachtung der Erde und des Körperlichen scheint diese Kränkung unvermindert stark fortzubestehen. Es fällt uns nach wie vor sehr schwer, uns als Tier zu empfinden, als Tier, das die Evolution zwar mit der Gabe des Bewusstseins beschenkt hat, welches sich aber dennoch in einer Jahrmillionen langen Entwicklungsreihe von Einzellern, Fischen, Amphibien, Reptilien, Säugetieren und Affen befindet. Es fällt uns schwer, Tiere als unsere Brüder und Schwestern, als gleichberechtigte Mitbewohner unseres Planeten, zu empfinden. Es fällt uns schwer, das Animalisch-Triebhafte unseres Wesens anzunehmen, dem wir, wenn wir genau hinschauen, auf Schritt und Tritt begegnen und dem wir den weitaus größten Teil unseres Tages widmen. Wie auch immer wir diese Tatsache vor uns verbergen und bemänteln wollen: Es ist offensichtlich, dass es uns allen, wie der ganzen Pflanzen- und Tierwelt, doch immer darum geht, unser Leben zu erhalten und unser Überleben zu sichern. Es geht uns um Nahrungssuche, -aufnahme, -verdauung und -ausscheidung. Wir wollen neue Reviere erkunden, abstecken und behaupten, unseren Konkurrenten gegenüber unsere Machtpositionen vergrößern, Besitz sammeln und sichern, unsere Gene möglichst zahlreich verbreiten, uns paaren, fortpflanzen und für den Nachwuchs sorgen. Wir wollen schlafen und uns erholen und schließlich - wenn bei all dem Lebens- und Überlebenskampf noch etwas Energie übrigbleibt - die Umgebung neugierig, vielleicht auch spielerisch erkunden. Wir haben - bildhaft gesprochen - nicht nur einen rudimentären Tierschwanz, sondern wir haben einen Jahrmillionen zurückreichenden riesigen "Dinosaurierschwanz", der uns letztlich mit allen Tieren und allem Leben verbindet. Unsere Träume zeigen unsere Verwandtschaft mit den Tieren sehr häufig. Die Frau konnte diesen Traum gleich mit ihrem momentanen seelischen und körperlichen Zustand in Verbindung bringen. Sie spürte, die Katze war sie selbst, sie fühlte sich gerade sehr stimmig und auf dem Höhepunkt ihres Lebensgefühls (in der Krone des Lebensbaumes!). Die heilsame Wirkung von Haustieren auf uns ist seit langem bekannt. Sie werden oft als die "besseren Menschen" empfunden. Sie sind zuverlässig, treu, authentisch, beständig in ihrer Zuwendung, sie sind selten gekränkt und enttäuscht, haben keine Schwierigkeiten mit Körperkontakt und mit ihren körperlichen Bedürfnissen und sind bereit, mit uns durch "dick und dünn" zu gehen. Wir sind MaterieÄhnlich schwer wie unsere Tiernatur zu akzeptieren, fällt uns die Tatsache anzunehmen, dass wir aus Materie bestehen. Wir wollen oft nicht wahrhaben, dass chemische, elektrische und physikalische Vorgänge unsere Existenz tiefgreifend bestimmen, dass nur wenige Mikrogramm chemischer Substanzen - etwa von Hormonen oder Transmitterstoffen im Gehirn - über unser Glück oder Leid bestimmen können, über Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, über Sinn und Wahnsinn. Obwohl wir im Grunde gar nicht genau wissen, was diese wundersame Materie, aus der wir bestehen, genau ist, und wie es kommen kann, dass aus ihr die ganze Welt und alles Leben entstanden ist, tragen wir in uns fast unüberwindlich das uralte Vorurteil, dass es eben "nur" Materie sei und damit etwas Niedriges und Geringes. Unter anderer Perspektive könnte es allerdings etwas sehr Aufregendes und Großartiges sein, wenn wir uns zugestehen könnten, dass wir buchstäblich aus dem Staub der Erde und der Energie der Sterne gemacht sind, dass wir unseren Ursprung bis zum Anfang aller Zeiten zurückverfolgen können und dass wir - auch wieder ganz real aufgefasst - eine Inkarnation (Fleischwerdung) des Universums und der Erde sind. Dazu aber wird es nötig sein, dass wir die "Materie" (das Wort leitet sich ja schließlich aus mater, Mutter ab) und die Erde aus ihrer Abwertung erlösen und sie tatsächlich als unseren Ursprung, als unsere Geburtsstätte, als unsere wahre Heimat erkennen und feiern. Die Macht des UnbewusstenEin letzter hier dargestellter Grund für die Abwertung des Erdhaften und Körperlichen ist die mit ihr aufs Engste verbundene Dimension des Unbewussten. Unserer heroischen Auffassung, "Herr im eigenen Haus" zu sein, alles machen und kontrollieren zu können, scheint es schwer erträglich zu sein, dass sich weiteste Bereiche unserer Existenz unserem bewussten Wollen und Zugriff entziehen. Sigmund Freud sprach in diesem Zusammenhang von der dritten großen Kränkung, die die Menschheit erlitten hätte - neben der kopernikanischen Wende, der Einsicht also, dass die Erde und damit der Mensch nicht Mittelpunkt des Universums ist und der beschriebenen Tatsache der evolutionären Entwicklung. Und selbst er, einer der großen Pioniere in der Erforschung des Unbewussten, scheint noch eine viel zu kleine Vorstellung von den Ausmaßen der unbewussten Dimensionen in uns gehabt zu haben. Abgesehen von einigen "archaischen Resten", die in uns schlummerten, hielt er es für prinzipiell möglich, das Unbewusste bewusst zu machen, was natürlich nach heutigem Verständnis ganz und gar unmöglich ist. Um sich eine ahnungsweise Vorstellung vom ganzen Ausmaß des Unbewussten zu machen, kann man sich vor Augen führen, dass der ganze evolutionäre Prozess in seinen millionenfachen Lebensarten und -formen zum allergrößten Teil unbewusst verlaufen ist. Alle Pflanzen, Tiere bis hinauf zum heutigen Menschen mit seinem überaus intelligenten Organismus und dem Wunderwerk Gehirn sind nicht das Ergebnis einer bewussten Planung, sondern einer unbewusst verlaufenen Entwicklung. Alle unsere körperlichen Vorgänge, unsere Sinne, unsere Fähigkeit, Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen und Phantasien zu erleben, sind entstanden, ohne dass es etwas in uns gab, dass davon etwas "wusste". Erst mit der Entwicklung des Bewusstsein scheint sich die Evolution eine Möglichkeit geschaffen zu haben, sich selbst erkennen zu können. Ohne dieses bisher letzte und vielleicht großartigste Wunder der Evolution in seiner Bedeutsamkeit schmälern zu wollen - wir werden es gebührend im LOGOS-Kapitel würdigen - müssen wir uns klar machen, dass wir in jedem Augenblick unseres Lebens zum allergrößten Teil (vielleicht zu 90%, vielleicht zu 99% oder zu 99,99%) von unbewussten Abläufen bestimmt werden, selbst da, wo sie uns bewusst werden. Auch unsere bewussten Gedanken, Gefühle und Entscheidungen rufen wir nämlich nicht absichtlich gesteuert hervor, sondern sie entstehen in uns auf ihre eigene Weise. Unsere Person wird in ihrem Sein und Verhalten nicht durch das Ich-Bewusstsein bestimmt, sondern es ist umgekehrt. Das Unbewusste ist die eigentliche Person, unser eigentliches, aber unbekanntes Wesen. Wir werden auf dieses Thema noch einmal im Kapitel über den MYSTOS-Faktor zurück kommen. Mit den neuesten Ergebnissen der Hirnforschung wie auch der Evolutionsbiologie und Evolutionspsychologie wird auch deutlich, dass der Geist nicht freischwebend vom Himmel herab kam und sich mit dem Körper auf geheimnisvolle Weise verband. Er ist vielmehr ein letztes Produkt jener Intelligenz, die in der Natur und im Körperlichen seit Jahrmillionen von Jahren wirkt und den evolutionären Prozess vorangetrieben hat. Der Geist war schon immer untrennbar mit dem Körperlichen verbunden. Ihm sind wir noch niemals unabhängig von etwas Körperlichem begegnet. Wir sind vergeistigte Materie oder materialisierte Geistigkeit. Der Geist kommt also nicht aus fernen Sphären "von oben", viel eher von innen und von unten, wenn man diese räumlichen Kategorien verwenden will. Damit wird aber eine vollständige Umwertung des "Unteren", des Unbewussten und des Körperlichen notwendig. Geist und Körper, Energie und Materie erscheinen heute als zwei Aspekte eines geheimnisvollen Mysteriums, wobei "die Seele das innerlich angeschaute Leben des Körpers und der Körper das äußerlich geoffenbarte Leben der Seele ist" (C. G. Jung).[13] Der Körper und die mit ihm verbundene Weisheit des Unbewussten enthält in sich das Wissen der gesamten Evolution, wenn auch nicht in einer bewusst zugänglichen, sondern eher in einer instinktiven, biologischen Weise, in der die Gene wirksam werden und der Körper arbeitet. An einer Stelle beschreibt C. G. Jung das Wesen des Unbewussten so: "Könnte man das Unbewusste personifizieren, so wäre es ein kollektiver Mensch, jenseits der geschlechtlichen Besonderheit, jenseits von Jugend und Alter, von Geburt und Tod, und würde über die annähernd unsterbliche menschliche Erfahrung von ein bis zwei Millionen Jahren verfügen. Dieser Mensch wäre schlechthin erhaben über den Wechsel der Zeiten. Gegenwart würde ihm ebensoviel bedeuten wie irgendein Jahr im hundertsten Jahrtausend vor Christi Geburt, er wäre ein Träumer säkularer Träume, und er wäre ein unvergleichlicher Prognosensteller aufgrund seiner unermesslichen Erfahrungen. Denn er hätte das Leben des Einzelnen, der Familien, der Stämme und Völker unzählige Male erlebt und besäße den Rhythmus des Werdens, Blühens und Vergehens im lebendigsten inneren Gefühle"[14] Macht und Magie des MondesABB: Mondgöttin?Die verborgene Weisheit und Dynamik des Unbewussten wurde in der Tradition oft auch durch den Mond symbolisiert. Während die Sonne das Tages-Bewusstsein und das Licht der rationalen Erkenntnis darstellte, wurde der Mond mit dem Nacht-Bewusstsein, dem Schöpferischen und dem Licht der intuitiven, mystischen Einsicht in Verbindung gebracht. Zum Mond wie auch zur Dunkelheit und Nacht haben die Menschen seit jeher ein zwiespältiges Verhältnis gehabt. Unsere positiven Erfahrungen mit dem Mond hängen im wesentlichen damit zusammen, dass er als zunehmender Mond und als Vollmond mit seinem sanften Leuchten ein wenig Licht in die Dunkelheit der Nacht bringt. Die Dunkelheit war nicht nur für den frühen Menschen, sondern ist auch für uns heutige, oft etwas sehr Bedrohliches. Die Außenwelt wird unüberschaubar, wenn es dunkel wird, und die seelische Unterwelt des Unbewussten mit ihren "Geistern" und "Dämonen" beginnt eigentümlich rege zu werden. Alle möglichen Ängste, Befürchtungen, Konflikte, Phantasien und Träume werden lebendig. Je weniger Licht und klärendes, unterscheidendes Wach-Bewusstsein da ist, desto weniger können wir unterscheiden, ob es Realitäten oder reine "Hirngespinste" sind, die uns da beschäftigen. Wir alle kennen aus unserer Kindheit den angstvollen Ruf nach Licht, wenn wir aus dem Schlaf erwachten und die Schwärze der Nacht oder die dunkle Tiefe des Raums uns zu verschlingen drohte. Wie tröstlich konnte dann ein Lichtstrahl sein, der durch den Türspalt, das Schlüsselloch oder das Fenster fiel. Ähnlich beruhigend mag dem frühen Menschen der Mondschein gewesen sein. In seinem fahlen, kühlen Licht konnte man sich wenigstens einen gewissen Überblick über die äußeren und inneren Vorgänge verschaffen. Es vermittelte einem ein angstfreieres, vielleicht sogar meditatives Eintauchen in die Welt der psychischen Phantasien und Bilder, in die Vorgänge des Unbewussten mit seinen eigentümlichen Symbolen, Stimmungen und Launen (das deutsche Wort Laune hängt mit dem lateinischen Wort für den Mond "luna" zusammen), weil ein gewisses Maß an Distanz und Orientierung aufrechterhalten werden konnte. Im Licht des Mondes wird uns ein teilweises Auf- und Hingeben des Ich-Bewusstseins an die Nachtseite und mystische Tiefendimension der Seele möglich. Wir können besser nach innen gehen. Wir werden offen, ansprechbar, empfänglich für das, was dort keimt, wächst und geboren werden will. Dieses Eintauchen in die mondhaften "Wasser" des Unbewussten wird besonders auch von liebenden Menschen ersehnt - man denke an das romantische Symbolbild vom Rendezvous des verliebten Paares im Mondenschein -, weil es ihnen ihre tiefe Sehnsucht nach Rückkehr in die Einheit, nach Verschmelzung und Vereinigung stillt. Dieser Sachverhalt und auch die schon früh beobachtete Übereinstimmung des weiblichen Menstruations-Zyklus mit dem Mond-Zyklus ließen den Mond (oder eigentlich besser: die Mondin) zum Symbol der Großen Mutter und der Gottheit des schöpferischen Lebens, der Vegetation, des Wachsens, Werdens und Vergehens, der Fruchtbarkeit, der Fortpflanzung, der Schwangerschaft und Geburt, aber auch des Todes werden. Gerade die abnehmende und dunkle Schwarz-Mond-Phase, in der der Mensch von allem Licht verlassen und der Dunkelheit unbarmherzig ausgeliefert ist, wenn nicht wenigstens noch die gütigen anderen Sterne am Himmel ein bisschen Hoffnung schenken, wurde ihm auch zu einer Zeit des Schreckens, des Wahns, des Sterbens und des Todes. Mitternacht, die dunkelste Zeit des Tages, war deshalb auch die Zeit der Geister, der schwarzen Magie, des bösen Zaubers, der Hexen- und Teufelskulte. Die Dunkelheit, die wir häufig mit dem Nichts, der Auslöschung, dem Tod verbinden, erscheint aber nur unserem Ich-Bewusstsein so gefährlich. Das meiste nämlich an lebenswichtigen und lebensförderlichen Vorgängen geschieht in der Dunkelheit des Unbewussten: Empfängnis, Schwangerschaft wie auch alle anderen Körpervorgänge verlaufen im Dunklen, selbst das Gehirn befindet sich im dunklen Kopf, in den nie ein Lichtstrahl hineinfällt und wenn, dann bedeutet es meist nichts Gutes. Der größte und wichtigste Teil unserer Existenz spielt sich also in gewisser Hinsicht im Dunklen ab und wir tun gut daran, unsere Einstellung zu dieser Tatsache neu zu überdenken. Im Vergleich zu einem mehr "solaren", sonnenhaften LOGOS-Bewusstsein, dessen Fähigkeit eher im Unterscheiden, Einordnen, Systematisieren, Abstrahieren und zielgerichteten Denken besteht, liegt das Schöpferische des "lunaren", mondhaften BIOS-Bewusstseins mehr im ständigen Beschäftigen und Umkreisen eines Themas, im Hin- und Herbewegen, im Warten-Müssen und Abwarten-Können, bis die Zeit erfüllt ist, im Einwirken- und Aufgehen-Lassen. Die Erneuerung, Heilung oder Wandlung findet nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten im Verborgenen, in der Dunkelheit und Stille oder im Schlaf statt und ist dann auf einmal da - oder nicht. Die Energie des LebendigenDie dauernd wechselnden Phasen des Mondes haben eine unmittelbare Entsprechung zu der Vorstellung im chinesischen Taoismus, dass das Universum wie das Leben auf der Erde ihren eigenen, unerkennbaren inneren Prozess und ihren eigenen Rhythmus haben und dass es die gesündeste Einstellung ist, wenn man diesem "Lauf des Wassers", dem Strömen des TAO folgt. Entgegen allen Befürchtungen vieler Menschen, man würde dann in faules Nichts-Tun, ein bloßes Dahintreiben, in eine Gleichgültigkeit und Langeweile verfallen - eine Befürchtung, die auf Unverständnis und einem mangelnden Vertrauen auf ihre innere Selbstregulation beruht - kann das Leben viel überraschender, lebendiger, kreativer und sinnerfüllter sein, wenn man es wagt, sich loszulassen und sich mehr seinen spontanen Impulsen anzuvertrauen. Das TAO und sein Fließen ist ja wie das Leben und die Natur auch: mal ruhig und träge, mal dynamisch und ekstatisch, mal leicht, mal anstrengend. Und eine der typischen Erscheinungsformen des Lebens ist ja die Bewegung. Wir fühlen uns dann am besten, wenn wir aktiv sein können und eine befriedigende Aufgabe zu erfüllen haben. Und, da uns das unbewusste Leben ohnehin schon immer motiviert und steuert, werden wir auch weiterhin das tun, was uns wichtig ist, nur eben gelassener, befreiter und spontaner. Wir verlieren nichts, sondern gewinnen alles, nämlich ursprüngliche Lebendigkeit. Wie sich das anfühlen kann, zeigt folgender Traum eines 40-jährigen Mannes: "Eine große, kräftige, männliche Gestalt führt mich an einen fremden Platz. Es ist ein "heiliger Ort", ich spüre seine Energie in meinem Körper vibrieren. Ich bewege mich im Kreis und fühle mich von der Energie erfüllt und getragen. Es ist ein ekstatisches Gefühl. Ich spüre: diese Energie will mich heil machen. Ich habe das wunderbare Gefühl vollkommen zu sein, nichts weiteres mehr zu brauchen. Alles, was ich brauche ist diese Lebenskraft, dieses Lebendigsein. Beglückt wache ich auf." Ein solches Gefühl können wir haben, wenn wir in unserem Leben am richtigen Platz stehen und die uns wirklich entsprechende Aufgabe erfüllen.
ABB.: Natur mit FüllhornDer Kelch und das Wasser des LebensDie Sehnsucht nach einer vollen Erfahrung des Lebendigseins versinnbildlicht sich auch im verbreiteten Märchenmotiv vom Wasser des Lebens oder dem Symbol des "Heiligen Grals", jenem Kelch in dem sich der Sage nach das Blut Christi befindet. Das Gefäß, die Schale, der Kelch und der Behälter allgemein sind zentrale Symbole des BIOS. Sie symbolisieren das Umfassende, das Enthaltende und sind damit mikrokosmische Entsprechungen des Welt-Alls, des Makrokosmos, in dem sich die schöpferische Fülle des Lebens latent befindet und aus der sie hervorkommt. Die körperliche Entsprechung dazu ist insbesondere der Bauch, die Scheide, die Gebärmutter (uterus). Das Blut ist reine Lebensessenz. Insofern es beim heiligen Gral der Überlieferung nach von Christus stammt, ist es die göttliche Essenz schlechthin. Der Wein, der aus dem Kelch bei der Messe getrunken wird, repräsentiert zwar das Blut Christi, verbindet aber zugleich - wohl unbeabsichtigt - mit einer anderen Gottheit, die im Umfeld des BIOS auch wichtig ist: Dionysos, dem griechischen Gott des Weines, der Ekstase und der Leidenschaft. Lebendigkeit und Leidenschaft, BIOS und EROS gehören auf engste zusammen, wenn vielleicht auch nicht unbedingt im Christentum. Die BrustEin anderer "Behälter" mit kostbarer, lebensspendender Essenz ist die weibliche Brust, mit der wir uns schon ein wenig im EROS-Kapitel beschäftigt haben. Ihre Milch ist Lebens-Nahrung im konkreten wie symbolischen Sinn. Wachstum, Heilung, Gesundheit und Schönheit, Weisheit und Macht wurden seit altersher mit ihr verbunden. Brüste schenken darüber hinaus Innigkeit, Vertrautheit, Geborgenheit, Wärme, Weichheit, Schutz, Trost. Sie überwinden trennende Distanzen, sie erzeugen Nähe, Verbundenheit, Vereinigung, Verschmelzung, die Erfahrung der Einheitswirklichkeit. Eine Frau, die eine längere Zeit in einem ambivalenten Verhältnis zu ihrem sinnlichen Körper und ihren Brüsten stand, träumte: Ein unbekannter kleiner Junge will an meinen Brüsten saugen. Ich denke zuerst, das darf nicht sein, das führt zu weit, es ist ja ein fremdes Kind! Dann denke ich aber: "Was soll der Geiz?" und entscheide mich, ihn saugen und trinken zu lassen. Ich bin glücklich dabei: Ich verschenke und fühle mich beschenkt." Abb.: Philosophen an den Brüsten der Sophia Seither ist es für sie ermutigend und befreiend geworden, sich in Momenten, wo sie sich nicht recht traut, ihre Fülle zum Ausdruck zu bringen, zu sagen: "Was soll der Geiz?" Den Traum deutet sie so: "Es geht mir immer dann gut, wenn ich meine Fülle leben kann, mein übersprudelndes Wesen, meine Spontanität, meine Lebensfreude und Vitalität, meine Sinnlichkeit und erotische Lust. Es geht mir schlecht, wenn es nicht fließt. Ich fühle mich dann wie bei Frau Holle, wenn das Brot im Backofen herausgeholt werden will, weil es fertig ist, oder wenn der Apfelbaum voller Äpfel ist und geschüttelt werden will. Es ist schrecklich, wenn ich die Fülle in mir spüre und es mir nicht möglich ist, sie zu leben." Die SchlangeABB.: Schlangengöttin (Neumann), evtl. Kundalini-SchlangeEin anderes Symbol der Energie des Lebendigen ist die Schlange. Die Schlange wird u.a. als ein Attribut der Großen Göttin aufgefasst. Als hochambivalente Energie und ursprüngliche Instinkt-Natur, die in der Erde lebt, von dort in unberechenbarer Weise hervorstößt und den Tod bringen kann, ist sie gleichzeitig auch, da sie periodisch ihre Haut erneuert, Auferstehung, Leben und Wandlung. Sie ist weiblich und männlich-phallisch, das Licht der Weisheit und die Finsternis zugleich. In der uranfänglichen Kreisschlange ist sie der ewig kreisende und sich durch die Äonen hindurch bewegende Lebensstrom des Werdens und Vergehens. Wie eng Leben und Tod, Vernichtung und Neugeburt im Bereich des BIOS zusammen gehören, zeigt die folgende mystischer Erfahrung einer Akademikerin, Mutter von drei Kindern, die sie mit LSD gemacht hatte, dem Zufallsfund eines modernen Alchemisten, des Chemikers Albert Hoffmann, der wir - trotz aller problematischen Aspekte dieser Substanz - viele wesentliche Einsichten in den Kosmos der Psyche verdanken[15]: "Dann fing ein komplexer Kreislauf des Lachens und der Tränen an; das Lachen ging gewöhnlich mit einem Öffnen der Arme und Beine einher, das Weinen mit einem Zusammenziehen und Zumachen des Körpers. Ich ging durch zahllose Menschheitsepochen in der Zeit zurück, erlebte in meinem Körper zahllose Geburts-, Todes- und Wiedergeburtskreisläufe. Ich fand mich in verschiedenen Weltteilen wieder (vor allem Europa), eher mit einfachen Bauern und Handwerkern zusammen als mit Königen und Adligen. Ich wurde beerdigt und beerdigte andere, die mir lieb gewesen waren, bekam die Augenlider zugedrückt und die Arme über der Brust gekreuzt oder vollzog dieses Ritual an anderen. Der schmucklose Holzkasten wird in das Grab hinuntergelassen, die Erde wird darüber geworfen, die Trauernden klagen. Dann bin ich eine Frau, die gebiert oder Geburtshilfe leistet. Da ist der Schrei des neugeborenen Kindes, das kreisförmige Schließen der Mutterarme, um das Kind an die Brust zu ziehen. Geburtsschreie und Todesrasseln vermischen sich innerhalb eines Augenblicks. Mir wird bewusst, dass mein eigener Ort in dem rhythmischen Muster von Tod und Geburt nur ein bewegtes Nu ist - und das ist mehr als genug. Das Gefühl der Einheit mit dem All, mit dem durch die Gesamtheit meines Körper-Selbst erlebten Prozess von Geburt und Tod, überschwemmt mich gnadenvoll. Es ist, als ob ich ein derart kostbares Geschenk erhalten hätte, dass ich nie wieder fragen müsste: "Was ist der Sinn meines Lebens?" [16] Auch die Kundalini-Schlange im indischen Tantrismus repräsentiert die reine Lebensenergie. Dort stellt man sich vor, dass in jedem Menschen ein psychisches Potential schlummert, das zunächst in den Chakren (psychische Zentren) nur latent und unbewusst vorhanden ist. Im unerweckten Zustand symbolisiert sich diese Energie als Schlange, die zusammengerollt am unteren Ende der Wirbelsäule, dem niedrigsten "Chakra" liegt. Durch bestimmte meditative Übungen konzentriert sich der Übende, von unten nach oben vorgehend, auf die einzelnen Chakren und vergegenwärtigt sie sich körperlich. Dadurch wird die "Schlangenkraft" geweckt und aktiviert. Ihre feurige Energie steigt auf. Sie belebt die Chakren und die damit verbundenen Persönlichkeitsbereiche und Komplexfelder und "brennt" in ihnen alle "Schlacken" und "Unreinheiten" weg, die einem vollständigen Funktionieren und einer völligen "Entfaltung" der "Blüten" der Chakren oder dem "Rotieren der Energieräder" der Chakren im Wege stehen. Die aufsteigende Schlangenenergie vereinigt sich schließlich mit dem spirituellen Bewusstsein im obersten Chakra, wodurch es zur Erleuchtungserfahrung kommt. Tiefenpsychologisch gesehen handelt es sich bei der Aktivierung der Kundalini-Schlange um die Aktivierung tiefster Schichten des Unbewussten und um die Auseinandersetzung mit zentralen archetypischen Komplex- und Konfliktfeldern: Muladhara, das unterste Chakra, repräsentiert die Erde und Materie, den BIOS. Hier liegt die Urenergie, die Lebenskraft, die Libido, hier sind die Grundbedürfnisse des Lebens und Überlebens angesiedelt (Selbsterhaltung, Sicherheit, Nahrung, Schlaf, Bewegung, Vitalität, Energie etc.); es ist das Bewusstseinsniveau des unreflektierten, automatischen, animalischen alltäglichen Lebens. Aus diesem Zustand gilt es nun, die Kundalini-Energieschlange zu wecken und zu höherer Bewusstheit aufzusteigen. Das zweite Chakra, Svadhisthana, befindet sich auf der Höhe der Genitalien und ist deshalb hauptsächlich mit der Sexualität und entsprechenden Triebregungen und Phantasien verbunden. Insofern im sexuellen Trieb auch tiefe Sehnsüchte nach Vereinigung mit dem Gegengeschlechtlichen und dem Transpersonalen enthalten sind, beginnen sich hier schon spätere Aspekte der Individuation anzudeuten, wenn auch noch auf einer ganz elementaren und triebhaften Ebene. (BIOS, EROS) Im dritten Chakra, Manipura, das der Bauchregion und dem Sonnengeflecht zugeordnet ist, sind elementare Selbsterhaltungsbedürfnisse und Affekte lokalisiert (Haben, Besitzen, Macht, Agression) (BIOS, HEROS). Das vierte (Herz-) Chakra, Anahata, nimmt eine Mittelstellung zwischen oben und unten ein. Es steht für Einfühlung, Mitgefühl und Zuneigung (EROS). Das fünfte (Kehlkopf-) Chakra, Visuddha, repräsentiert die Welt der Sprache, der Kommunikation und der Gedanken (LOGOS) und das sechste, Ajna, höhere psychische Fähigkeiten, Intuition und veränderte, geistige Bewusstseinszustände (Stirn, zwischen den Augenbrauen, das "dritte Auge"). (LOGOS, MYSTOS) Sahasrara, das siebte Chakra schließlich, das im Gehirn oder auf dem Scheitel angesiedelt wird, ist mit höchsten Erleuchtungszuständen und transzendenten Erfahrungen verbunden (MYSTOS). Im Aufsteigen verbindet die Kundalini-Schlange das Unterste mit dem Obersten und lässt die körperlich-geistige Ganzheit und Einheit des Menschen offenbar werden.
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