Die Stufen der Bewusstseinsentwicklung

Verschiedene Philosophen und Psychologen - z.B. Jean Gebser[20], Erich Neumann[21], zuletzt Ken Wilber[22] - haben versucht, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Ethnologie, der vergleichenden Religionswissenschaft, der Entwicklungspsychologie, der Psychologie und der Tiefenpsychologie bestimmte Aspekte des menschlichen Bewusstseins und die Stadien seiner Entwicklung zu beschreiben. Diese Entwicklung lässt sich nicht nur aufgrund konkreter klinischer Beobachtungen und Forschungen am Menschen von seiner Geburt bis zu seinem Tode, sondern in gewissem Rahmen auch anhand der Bilder und Symbole der Religionen und der Kulturentwicklung rekonstruieren. Meist geht man heute davon aus, dass sich die großen Stadien der menschlichen Bewusstseinsentwicklung im individuellen Leben wiederholen, d.h. jeder Mensch durchschreitet von seiner Geburt bis zu seiner Reife in relativ gesetzmäßiger Abfolge und bis zu bestimmten individuellen Grenzen die gleichen Stufen, die die Menschheit als Ganzes durchschritten hat. Dabei kann man für eine bestimmte Gesellschaft und Kultur zwar den gegenwärtigen allgemeinen Bewusstseinsstand angeben - wie er sich in der Art der politischen Organisation, dem durchschnittlichen Lebensstil, den geistigen und religiösen Werten spiegelt - aber innerhalb jeder Gesellschaft gibt es darin eine große Spannbreite.

Für eine grobe Orientierung lassen sich dabei drei Phasen der Bewusstseinsentwicklung unterscheiden. Auf eine relativ unbewusste, undifferenzierte Phase (präpersonale Phase) folgt eine Differenzierung des Bewusstseins in verschiedene Polaritäten (personale Phase). In der dritten Phase (integrative, transpersonale Phase) finden diese Polaritäten schließlich ihre Synthese. Hierbei gilt, dass die nachfolgende Phase die vorangegangene transzendiert und integriert, was heißt, dass zwar jeweils eine neue weitere Bewusstseinsdimension, ein vertieftes Welt- und Selbstverständnis gewonnen wird, die Zustände und Erfahrungsdimensionen der unteren Phasen aber natürlich erhalten und wirksam bleiben.

Die folgende kurze Übersicht über die Entwicklung des Bewusstseins in der Menschheitsgeschichte folgt - mit geringfügigen Abweichungen - vor allem der umfassenden Zusammenschau aller bisher vorliegenden Erkenntnisse, die Ken Wilber auf der Basis vieler anderer Forscher in seinen Werken herausgearbeitet hat.[23] 

Die präpersonale Phase der Bewusstseinsentwicklung

Diese Phase wird auch als archaisch, pleromatisch-uroborisch, vegetativ-animalisch bezeichnet. Auf der Ebene eines präpersonalen Welt- und Selbsterlebens gibt es noch keine deutliche Unterscheidung zwischen Ich und Welt, Ich und Du, Innen und Außen. Die Dimensionen von Zeit und Raum spielen keine Rolle. Es besteht keine klare Vorstellung vom Leben und Sterben, es gibt nur unmittelbare Seins-Erfahrung, keine vorausgenommenen existentiellen Ängste, alles ereignet sich überwiegend in einem dauernden gegenwärtigen Strömen und Kreisen des Lebens. Dementsprechend gibt es auch kein ausreichend abgegrenztes Erleben, das sich einem anderen Objekt gegenüber als deutlich abgegrenztes "Ich" empfinden könnte, vielmehr besteht eine Art vorbewusstes Einheits- und Ganzheitserleben, das in der psychologischen Literatur als Symbiose oder Dualunion beschrieben wird.

Auch wenn auf dieser Ebene ein gewisses Bewusstsein (Wachbewusstsein, Körperbewusstsein, Empfindungsbewusstsein, Gefühlsbewusstsein) durchaus vorhanden sein kann, wie es auch bei höheren Säugetieren sehr wahrscheinlich ist, gibt es hier noch kein klares Ich-Bewusstsein, nur allererste Ich-Bewusstseins-Ansätze und "Keime", aus denen sich später das Ich-Bewusstsein differenziert. Wir können über solche Zustände nur relativ wenig aussagen, weil sie "präpersonal" wie auch "präverbal" sind und sich einer sprachlichen Formulierung, die immer auf unterscheidbaren Polaritäten beruht, entziehen. Erst später, nachdem der Mensch ein ausreichend stabiles, integrationsfähiges Bewusstsein erworben hat, ist es ihm möglich, sich auf regressive Weise diesem frühen Bewusstseinszustand zu nähern, ohne von ihm aufgelöst zu werden und damit seine Bewusstseinsfähigkeit zu verlieren. Eine solche Regression wird in manchen Therapieformen (z.B. Psychoanalyse, Hypnosetherapie oder holotrophes Atmen) angestrebt. Dabei bleibt aber immer fraglich, ob das, was in solchen Zuständen erfahren wird, tatsächlich dem ursprünglichen Zustand entspricht, weil es ja vor dem Hintergrund der Erfahrung eines erwachsenen Menschen und eines ausgereiften Gehirns erfahren wird.

Dieser Phase wird das Symbol des Uroborus, der Kreisschlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, zugeordnet. Es ist das große Runde und Eine, die ursprüngliche Einheitswirklichkeit, die fortwährend in sich kreist und sich durch die Äonen hindurch bewegt, ohne von sich selbst zu wissen. Es ist der Zustand des Bewusstseins vor dem biblischen Sündenfall. Die Gegensätze sind noch nicht bewusst getrennt. Diese Phase und auch noch die nächsten stehen symbolisch weitgehend unter der Dominanz des BIOS, der Erde, Natur, der Körper- Trieb- und Instinktwelt. Es lässt sich vermuten, dass dies der bewusstseinsmäßige Zustand des Urmenschen bis etwa 200000 Jahre vor Christus war und in mancherlei Hinsicht dem Zustand des Kindes bis vielleicht ins erste Lebensjahr hinein entspricht. 

Die personale Phase der Bewusstseinsentwicklung

Diese Phase insgesamt ist bisher am besten erforscht, und sie entspricht weitgehend den Erfahrungen des durchschnittlichen Menschen heute. Es lassen sich drei Unterphasen deutlicher voneinander abgrenzen:
      - Die magische Phase
      - Die mythische Phase
      - Die rationale Phase

Diese Abgrenzung ist aber vor allem eine logische. Im alltäglichen Leben und in der Bewusstseinsentwicklung treten diese Bewusstseinszustände häufig sehr vermischt, vielfältig wechselnd und auch gleichzeitig nebeneinander auf. Diese Phasen haben gemeinsam, dass sie mit einer zunehmenden Differenzierung, Unterscheidung der Polaritäten wie Innen und Außen, Subjekt und Objekt verbunden sind. Erst in der dritten großen Phase - der integrativen, transpersonalen Phase -, in der sich das Bewusstsein selbst zu reflektieren und seine Abwehrvorgänge zu durchschauen beginnt, kommt es wieder zu einer Integration der getrennten Aspekte und zu einer ganzheitlichen Erlebensweise, die schließlich in der mystischen Einheitserfahrung gipfelt.  

Die magische Phase der Bewusstseinsentwicklung

Auf der magischen Bewusstseinsebene beginnen die ersten deutlichen polarisierenden Unterscheidungen, z.B. zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Welt. Allerdings wird diese Unterscheidung durch zahlreiche Überlagerungen erschwert, durch die das Erleben der Innen- und Außenwelt immer wieder miteinander verschmelzen. Zum einen gelingt es dem magisch erlebenden Menschen nicht, bestimmte Seiten seines Wesens als zu sich gehörig zu erkennen. Dabei kann es sich um tabuisierte, angstbesetzte Eigenschaften von ihm handeln oder auch um starke Affekte und Triebe, die so autonom sind, dass er sie nicht genügend kontrollieren kann. Diese (noch) nicht integrierten oder abgespaltenen Seiten erscheinen ihm als Wesenheiten, Dämonen, Geister, die sich seiner bemächtigen. Zum anderen aber erlebt er bestimmte Vorgänge seiner Umwelt nicht als von ihm unabhängig und autonom, sondern als auf ihn bezogen. Er verfällt immer wieder in einen "egozentrischen" Standpunkt, er glaubt, alles drehe sich um ihn - was in gewisser Hinsicht ja stimmt. Er glaubt, alle möglichen Leute würden dauernd an ihn denken und sich mit ihm beschäftigen und er könne die Welt mit der Kraft seiner Vorstellungen und Gedanken direkt beeinflussen.

Auch der moderne Mensch lebt noch in weit größerem Ausmaß in magischen Vorstellungen und Beziehungen, als ihm bewusst ist. Es lässt sich leicht zeigen, dass wir überall dort, wo wir unbekannten, unverständlichen oder auch besonders emotional belastenden, bedrohlichen Situationen gegenüber stehen, wo unsere wunden Punkte (Komplexe) berührt werden und wir uns hilflos fühlen, sehr schnell auf magische Bewältigungsstrategien zurückgreifen. Wir denken und erleben meist nur in unseren ruhigsten, entspanntesten und klarsten Momenten rational, "vernünftig" und "reif". Sobald wir in Spannung, Stress und Angst geraten, greifen wir in mehr oder weniger starkem Ausmaß auf magisch-symbolisches Denken zurück und verwenden magische Techniken der Daseinsbewältigung. Wir fühlen uns dann schnell vom bösen Schicksal oder den bösen Gedanken anderen Menschen "verfolgt". Wir erflehen uns himmlischen Beistand oder zelebrieren magische Rituale, wir wollen Kontakt mit Verstorbenen und höheren Geistern aufnehmen, lassen uns ein Horoskop erstellen, überprüfen die aktuelle Gestirnkonstellation, gehen zu Handlesern, Wahrsagern und befragen Orakel.  

Die mythische Phase der Bewusstseinsentwicklung

Während auf der magischen Bewusstseinsebene immer noch eine recht ausgeprägte Verschmelzung zwischen Innen und Außen, Mensch und Umwelt vorherrscht, geht der Differenzierungsprozess auf der mythischen Stufe weiter, indem der Mensch zunehmend seine begrenzte Macht und seine Hilflosigkeit erfährt und seine Omnipotenzphantasien zurücknehmen muss, aber auch neue selbstgestalterische Fähigkeiten entdeckt. Er beginnt Sprache und Zeitgefühl zu entwickeln und sich in differenzierter Weise Vorstellungen und Gedanken über den Ursprung der Dinge, des Universums, des Menschen und der Tiere, über die Naturvorgänge, seinen Körper, die Nahrung, die Sexualität, über Mann und Frau und die Bedeutung seines Lebens und Sterbens zu machen. Auch hier projiziert er natürlich noch vieles aus seiner eigenen Innenwelt auf die Außenwelt, aber es ist nicht mehr er selbst, der das alles gemacht hat, sondern er erkennt zunehmend die Autonomie und Eigengesetzlichkeit der Vorgänge sowohl in ihm als auch in der Außenwelt. Er erinnert sich an Vergangenes und nimmt Zukünftiges vorweg. Er wird sich seiner Sterblichkeit deutlicher bewusst und sucht auf vielerlei Weise, dem Tod zu entgehen, bzw. den Bereich des Todes zu ergründen (Einbalsamierung, Vorstellungen eines Totenreiches, eines Gerichtes, das die Taten seines Lebens beurteilt etc.) Er ist nicht mehr vollständig von seinen Trieb- und Instinktbedürfnissen bestimmt, kann sie aufschieben und kultivieren.

Wenn er sich fragt, woher er eigentlich kommt, realisiert er, dass er sich in der Welt vorfindet, ohne dass er weiß, warum und zu welchem Zweck. Er stellt sich vor, dass er von einem göttlichen Ur-Elternpaar oder einer Ur-Mutter ebenso hervorgebracht wurde, wie seine eigenen Kinder von ihm hervorgebracht werden. Er stellt sich vor, dass die Welt ebenso gemacht wurde, wie er die Dinge zu machen imstande ist: durch eine bestimmte Absicht, einen Plan, einen schöpferischen Willensimpuls und konkrete Handlungen. Er vermutet, dass es hinter oder über allem noch ein unbekanntes Jenseits, einen Himmel, eine Hölle, eine Überwelt und eine Unterwelt geben müsse, in denen sich alle diese verursachenden inneren und äußeren Kräfte, Gottheiten und Teufel, aber auch seine ihn eigentümlich bewegende Seele befinden. Durch Rituale, Opferhandlungen und Gebete versucht er, die vielen Kräfte und Gottheiten, von denen sein Leben abhängt, günstig zu stimmen. In der Auseinandersetzung mit diesen unbekannten Naturkräften außen und den unbewussten Kräften innen - die oft noch im Außen vermutet werden - lernt er deren Charakteristika und Eigenarten immer besser kennen und unterscheiden. Im Götterhimmel und Menschenleben der griechischen Mythologie wie auch in vielen anderen Mythologien sind derart differenzierte Lebenserfahrungen zusammengefasst, dass sie auch für den modernen Menschen noch eine schier unerschöpfliche Quelle der Weisheit und Inspiration sein können, vorausgesetzt, er versteht sie symbolisch.

Der mythische Mensch ist nicht mehr überwiegend egozentrisch, sondern soziozentrisch orientiert, d.h. seine Gruppe und das eigene Gesellschafts- und Glaubenssystem mit den entsprechenden Führungspersönlichkeiten stehen im Mittelpunkt. Er identifiziert sich mit ihnen und den kollektiven Werten. Gruppenfremde Menschen werden als bedrohlich und feindselig empfunden. In kollektiven Massenbewegungen (großen Sportveranstaltungen, Demonstrationen, Kundgebungen), die in Bezug auf den individuellen Menschen oft eine stark gleichmachende Wirkung haben, lassen sich die Elemente des mythologischen Bewusstseins (z.B. starke Emotionalisierung, hohe Identifizierung mit der eigenen Gruppe, dagegen Bekämpfung und Verteufelung der anderen, fremden) immer wieder beobachten.

Wie schwierig und mühsam es auch für uns noch ist, die mythische Bewusstseinsebene zu überwinden, erfährt jeder, der versucht, seine eigenen religiösen Glaubensüberzeugungen zu hinterfragen, die in der Regel einem magisch-mythischen Vorstellungssystem entstammen. Die Autorität und Unfehlbarkeit des Papstes oder den Offenbarungs- und Wahrheitscharakter der Heiligen Schrift zu bezweifeln, ist für viele ein Sakrileg, das mit schweren Ängsten und Schuldgefühlen bezahlt werden muss. Obwohl Papst und Heilige Schrift als symbolische Größen des LOGOS zu sehen sind, ist doch die vorherrschende Bewusstseinslage ihnen gegenüber mythisch. Der LOGOS wird auf eine gottähnliche Gestalt oder eine Jahrtausende zurückliegende Offenbarung projiziert und nicht als eine eigene geistige Kraft, die man selber nutzen kann, gesehen.

Der Beginn der mythischen Phase wird in der Menschheitsgeschichte etwa mit dem Beginn des Ackerbaus auf 7000-5000 vor Christus datiert. Symbolisch-mythologisch dominieren die Symbole des BIOS und des EROS. Das Leben ordnet sich in der Gemeinschaft nach dem zyklischen Verlauf der Jahreszeiten, es werden Blutopfer gebracht, um die Fruchtbarkeit der Erde und den Fortbestand des Lebens zu sichern. In den Mythen treten aber auch erste Heldengestalten auf, die sich aus dem Bereich des Mutterarchetyps und der Situation des kollektiv Eingebundenen herauslösen und Mut zur individuellen Entwicklung haben.  

Die rationale Phase der Bewusstseinsentwicklung

Die Phase des rationalen Bewusstseins setzte etwa 2500  vor Christus ein, gekennzeichnet vom Beginn der abendländischen Philosophie und der patriarchalen Kultur. Sie steht zunächst unter dem Symbol des HEROS, des Heldenkampfes. Der Mensch und sein Bewusstsein versuchen sich immer mehr aus der Abhängigkeit von den äußeren Naturmächten und den inneren Kräften der Triebe und Affekte zu lösen. Es kommt zu einer zunehmenden Konstanz und Stabilität des Ich-Bewusstseins, damit verbunden ist eine vermehrte Fähigkeit zur Weltbemächtigung. Das Ich-Bewusstsein orientiert sich zunehmend am LOGOS, mit seinen Grundsymbolen des Himmels, der Sonne und des Lichtes.

 

Abb.: Freiheitsstatue

Historisch und entwicklungsmäßig gesehen war es zunächst ein immenser Fortschritt für die Menschheit, sich aus dem magischen und mythischen Denken mit all seinen Vorurteilen, dem Aberglauben, der Machtausübung und Gewalttätigkeit, der Angst und dem Zwang zu befreien und sich an den Prinzipien der Vernunft, Logik und der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit zu orientieren. Erst die Fähigkeit, einen relativ unpersönlichen, unparteiischen, auch über eigene Gruppengrenzen hinweg reichenden Standpunkt einnehmen zu können, ermöglichte letztlich die Konstituierung der Menschenrechte, dem höchsten verbindlichen moralischen Wertesystem, über das wir heute verfügen. Ebenso wurde die Demokratie auf diesem Boden möglich und die Entwicklung der Wissenschaft, einer in vielerlei Hinsicht idealen Institution, weil sie international und methodisch wertneutral angelegt ist und sich der Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens und dem Wohl der Menschheit verpflichtet fühlt.

Die Entwicklung des rationalen und damit von subjektiven, emotionalen Einflüssen relativ unabhängigen Denkens ist eine evolutionäre Errungenschaft, die den Menschen erst wirklich zum Menschen macht. Diese Fähigkeit ist die Grundlage von Weisheit, Gerechtigkeit und Toleranz und eines beginnenden globalen Denkens, das über seine eigenen Grenzen hinauszuschauen vermag. Überall dort, wo sie nicht vorhanden ist, herrschen Angst, Zwang, Gewalt.

Die Mechanismen der Bewusstseinsbildung (Unterscheidung, Polarisierung, Abwehr der unbewussten und emotionalen Komponenten, Reduktion der Vielfalt) haben aber in dieser Phase eine starke Neigung, sich zu verselbständigen und zu verabsolutieren. Zu sehr noch ist man fasziniert von den enormen Möglichkeiten, die das freie Denken verspricht. Man glaubt, den Schlüssel zu allen Geheimnissen des Lebens und dessen Kontrolle in der Hand zu haben. Sehr komplexe und vielschichtige Phänomene des menschlichen Lebens, die sich nicht auf einen einfachen logischen Nenner bringen lassen, werden auf einige wenige Faktoren reduziert. In der Psychologie kennt man den Begriff der Rationalisierung als Bezeichnung für einen sehr häufig angewendeten Abwehrmechanismus, mit dem unbequeme, peinliche, angsterzeugende Aspekte der Persönlichkeit so erklärt werden, dass sie ihren irritierenden, das Selbstwertgefühl störenden Charakter verlieren. Man interpretiert sich die Ereignisse so, dass sie ins eigene System passen. Das geschieht nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen der religiösen, politischen und wissenschaftlichen Systeme: Das Unpassende, das das System aus dem Gleichgewicht bringen könnte, wird als nicht vorhanden weg erklärt. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Verhalten der Schulpsychologie während der zwanziger und dreißiger bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Sie verleugnete unbewusste seelische Vorgänge, weil sie sich einer direkten quantifizierenden Beobachtung entzogen und ließ als einzigen Gegenstand psychologischer Forschung nur all jene menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen gelten, die man unmittelbar und objektiv von außen erfassen konnte. Eine solche Haltung entspricht aber noch nicht einer im besten Sinne wissenschaftlichen Haltung, sondern eher einem magischen Abwehrzauber, der sich mit einem wissenschaftlichen Gebaren tarnt. Ein wirklich wissenschaftliches Denken dagegen ist bestimmt von dem Bemühen um ein Erkennen und Verstehen des eigenen Wesens und der Welt, so wie sie sind. Dazu gehört die dauernde Bereitschaft, Einstellungen und Vorstellungen in Frage zu stellen, sie mit den Erfahrungen anderer Menschen zu vergleichen, zu überprüfen, sie zu modifizieren und zu erweitern. Wissenschaftliches Denken muss alles einbeziehen können, es müssen gerade auch Prozesse, die sich im Inneren des Menschen abspielen, seine inneren Erfahrungen, seine Gefühle und Phantasien, seine Kreativität und seine religiös-transpersonalen Seiten, die ja für den Menschen oft von entscheidender Bedeutung sind, mit adäquaten Methoden untersucht werden.

Um die negativen Wirkungen des rationalen Denkens zu verstehen, muss man sich klarmachen, was seine ursprüngliche Funktion in der Bewusstseinsentwicklung des Menschen gewesen ist. Der Prozess des Unterscheidens von Polaritäten ist ja auf der Ebene des magisch-mythischen Welt- und Selbsterlebens erst in seinen Anfängen. Immer noch hat der Mensch aufgrund der projektiven Verschmelzung von Innen und Außen keinen wirklichen Standpunkt gefunden, um sich und die Welt so verstehen zu können, dass er seinen konkreten äußeren wie inneren Gefährdungen -durch Naturkatastrophen, Nahrungsknappheit, Krankheit etc.- wirksam begegnen könnte. Der erste Schritt der Projektionsrücknahme ist aber der, dass das äußere Objekt immer "objektiver" als das erkannt wird, was es ist, während der auf das Objekt ursprünglich projizierte seelische Inhalt weiterhin unbewusst bleibt. Erkenntnis beginnt immer erst außen, was mit der immensen Schwierigkeit zu tun hat, sich selbst und seine eigenen seelischen Voraussetzungen zu verstehen. Wie schwierig und mühsam es ist, sich selbst und die eigenen projizierten Anteile zu erkennen, erfährt jeder, der beispielsweise eine tiefenpsychologische Therapie macht oder in einer Partnerschaftskrise versucht herauszufinden, was denn sein eigener Beitrag daran ist. Ganz zwingend haben wir immer den Eindruck, dass es im Grunde am anderen läge. Die unbewusste Überzeugung "Wenn alle Menschen so wären wie ich, dann wäre die Welt in Ordnung" bleibt bei uns hartnäckig bestehen. Das Außen und das Innen werden als unabhängige Größen voneinander erlebt, wobei der eigene Standpunkt als der gute und der fremde als der schlechte oder zumindest der problematische empfunden wird. Man sieht hier deutlich, wie der egozentrische Standpunkt der magischen Ebene noch durchscheint. 

Die integral-transpersonale Phase der Bewusstseinsentwicklung

Die Ich-Entwicklung führt also mit einer gewissen Notwendigkeit zunächst zu Differenzierungs, Polarisierungs- und Verdrängungsprozessen, in deren Verlauf es in mancherlei Hinsicht zu einer immer besseren Erkenntnis, gleichzeitig aber auch zu einer Abwehr, Distanzierung und "Entfremdung" von einem ursprünglichen, einheitlichen und ganzheitlichen Ausgangszustand kommt. In der nächsten Phase wird der Einseitigkeits- und Abwehrcharakter der rationalen Phase überwunden. Das Denken kann sich selbst betrachten, in Frage stellen und seine eigenen typischen Begrenzungen erkennen (Erkenntnis- und Wissenschaftskritik). Das Denken wird nunmehr zu einer von mehreren bewusst eingesetzten Funktionen und Hilfsmitteln auf dem Wege zu einem vertieften oder erweiterten Bewusstsein.

Ein solches Bewusstsein vermag das wissenschaftliche Denken und den LOGOS mit den anderen Prinzipien, dem BIOS, HEROS und EROS zu versöhnen. Natur- und Geisteswissenschaften, Philosophie, Psychologie, Kunst, Religion, Liebe und alltägliches Leben sind nicht mehr sich ausschließende oder anfeindende Bereiche, sondern werden als zur Erlebensgesamtheit des Menschen zugehörig verstanden und gefördert. Im integralen Bewusstsein werden die verschiedenen Polaritäten des Daseins wieder in ihrer inneren Abhängigkeit voneinander und als Einheit gesehen. Die Spannung der im Bewusstsein als unterschiedlich erlebten Polaritäten kann aus dieser Einsicht heraus positiv ausgehalten werden, ja als Lebensmotor und Grundlage schöpferischen Tuns sogar genossen werden. Unterschiedliche Aspekte des Lebens können gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander bestehen und zugleich kann das Verbindende und Übergreifende erahnt werden. Die Komplexität des Lebens wird zugelassen. Es kann zu einer neuen Harmonie der Polaritäten kommen, nicht einer Harmonie des Gleichen und Gleichartigen, sondern einer Kontrast-Harmonie.

In diesem Zulassen des Komplexen und Vielschichtigen des Daseins wird auch der egozentrische Standpunkt des Menschen notwendigerweise relativiert. Der Mensch kann sich immer mehr mit dem Gesamt des Lebens, das er ist und repräsentiert und das in ihm zum Ausdruck kommt, identifizieren. Körper, Seele und Geist werden als Einheit erlebt und diese wiederum werden auch als Ausdruck überpersönlicher, transpersonaler Aspekte empfunden. Ken Wilber rechnet das integrale Bewusstsein aus systematischen Gründen noch nicht ganz zur transpersonalen Phase, sieht es aber auch als einen Übergang dorthin. Er beschreibt weitere transpersonale Phasen der Bewusstseinsentwicklung, die aber zunehmend unanschaulich werden und deren Gemeinsamkeit in der immer subtiler werdenden Erfahrung der Einheitswirklichkeit liegt.